Zukunft der Stahl-Industrie – Carina Stöttner als Auftakt-Speakerin auf der Handelsblatt Jahrestagung
Im März durfte ich die Handelsblatt Jahrestagung „Zukunft Stahl 2025“ mit dem Vortrag: „Szenarien für eine zukünftige Industrie“ eröffnen. Dabei habe ich einen fundierten Ausblick auf mögliche Zukünfte der Industrie und die Konsequenzen für die Stahlbranche gegeben.
Die Forschung dazu finden Sie auf der Website von Themis Foresight.

Zukunft Stahl: Drei Szenarien für die Industrie von morgen
Kennen Sie den Normalitäts-Bias?
Er beschreibt unsere Tendenz, zu glauben, dass alles so bleibt, wie es ist. Besonders deutlich zeigt sich dieser Denkfehler kurz vor Naturkatastrophen – etwa bei Hurricanes. Vielleicht haben Sie sich auch schon einmal gefragt: Warum bleiben Menschen in ihren Häusern, obwohl alle Prognosen eindeutig zeigen, dass ein Hurricane kurz davorsteht, über sie hinwegzufegen? Es ist dieses Verharren in der Phase des Leugnens: „Mich wird es schon nicht treffen.“ Oder: „So schlimm wird’s schon nicht.“
Genau diese Haltung führt dazu, dass wir Risiken unterschätzen – und sie beeinflusst unser Handeln in der Zukunft.
Wenn wir uns anschauen, wer in Zeiten von Krisen und Umbruch überlebt – Unternehmen wie Einzelpersonen –, dann zeigt sich ein klares Muster: Drei Phasen sind entscheidend.
Phase eins ist das Aufwachen – das Überwinden des Normalitäts-Bias. Ich denke, diese Phase haben wir alle längst durchlebt. Nach Corona, Energiekrise und geopolitischen Turbulenzen der letzten Jahre wissen wir: Die Welt verändert sich – und wir müssen uns mit ihr verändern.
Phase zwei ist die Planungsphase. Die entscheidende Phase. Wer erst dann eine Exit-Strategie entwickelt, wenn der Hurricane bereits das eigene Haus trifft, hat schlechte Karten. Für die Wirtschaft gilt dasselbe.
Phase drei ist das Handeln – auf Basis eines durchdachten Plans.
Ich möchte Sie einladen, tiefer in diese zweite Phase einzutauchen: das Denken in Szenarien. Denn anders als ein Hurricane ist die Welt der Industrie nicht linear vorhersehbar. Deshalb ist das berühmte Was-wäre-wenn so wichtig. Ich und meine Mit-Autoren haben vier Zukunftsszenarien für die deutsche Industrie entwickelt. Drei davon stelle ich Ihnen heute vor.
Aber vorab: Es geht nicht darum, exakt vorherzusagen, welche Zukunft eintreten wird. Kein Zukunftsforscher kann das. Es geht vielmehr darum, auf Basis wissenschaftlicher Methoden mögliche Entwicklungen durchzuspielen. Um vorbereitet zu sein.
Lassen Sie uns gemeinsam ins Jahr 2045 springen – 20 Jahre voraus.
Szenario 1: Deep Tech Deutschland
Wer erinnert sich an Daniel Düsentrieb? Ein genialer Tüftler mit Weitblick. Genau diesen Typus Mensch braucht es in diesem Szenario – kombiniert mit einem Dagobert-Duck-Mindset: unternehmerisch, visionär, erfindungsreich.
Deutschland hat sich in diesem Zukunftsbild zu einem führenden Deep-Tech-Standort entwickelt. Möglich wird das zum Beispiel durch neue Investitionen in Sicherheit und Verteidigung – denn historisch gesehen kamen viele große Innovationen aus der militärischen Forschung.
Heute basieren rund zwei Drittel unseres industriellen Umsatzes auf drei Branchen. Doch was, wenn sich das wandelt? Wenn 2045 ein Drittel des Umsatzes aus ganz neuen Industrien kommt – etwa Robotik, Biotechnologie, Nano- oder Quantentechnologie?
Was ist Deep Tech?
Es geht nicht nur um inkrementelle Verbesserungen, sondern um radikale Durchbrüche. Neue Technologien entstehen aus fundamentaler Forschung – mit Lösungen für globale Herausforderungen wie den Klimawandel.
Dafür braucht es echte Partnerschaften – auf Augenhöhe. Beispielsweise mit Ländern wie Kenia, um klimaresistente Pflanzen zu entwickeln und gemeinsam vor Ort zu testen.
Was bedeutet das für die Stahlindustrie?
Der Bedarf an Hightech-Stahl steigt:
- für Medizintechnik
- für Raumfahrt
- für Wasserstofftechnologien
- für Batterien
Klimaneutralität ist in diesem Szenario Standard. Innovation bedeutet hier nicht bloß Effizienzsteigerung, sondern Materialrevolution. Stahl wird neu gedacht – in seinen Eigenschaften, Anwendungen und Herstellungsverfahren. Die Industrie entwickelt ultraleichte, hitzebeständige oder magnetisch optimierte Legierungen. 3D-gedruckter Stahl ist genauso Realität wie nanooptimierte Werkstoffe mit völlig neuen Funktionalitäten. Doch: Der Wettbewerb ist hart. Neue Materialien und Anbieter drängen auf den Markt.
Szenario 2: Designed in Germany, Produced in the World
Was steht auf der Rückseite Ihres iPhones oder Ihrer AirPods? Designed in California, Assembled in China. Dieses sogenannte „Apple-Modell“ ist der Kern dieses Szenarios. Deutschland bleibt stark in Forschung, Entwicklung und Design – doch die Produktion findet global und vor allem außerhalb Deutschlands statt.
Diese Entwicklung kennen wir bereits aus der Textilindustrie. Früher ein starker Sektor in Deutschland, heute hochspezialisiert in Nischen wie technischen Textilien oder reduziert auf die Marke, wie bei Adidas, die hier Marketing und Design haben, aber anderswo produzieren. Ähnliches könnte auch anderen Branchen bevorstehen.
Für die Stahlindustrie bedeutet das: Viele große Kunden verlagern ihre Fertigung näher an Zielmärkte. Wer mithalten will, muss selbst international präsent sein – mit eigenen Produktionsstandorten. Innovation heißt dabei vor allem: gezielte Optimierung. Unternehmen verbessern entweder ihre Produkte technologisch – etwa durch hochspezialisierte Legierungen oder CO₂-reduzierte Herstellungsverfahren – oder sie entwickeln ihr Geschäftsmodell weiter. Die Industrie könnte sich hier zunehmend tertiarisieren und somit zur Dienstleisterin werden. Stahl-as-a-service sozusagen.
Szenario 3: Europäische Regional-Industrie
Ein protektionistisches Europa als Reaktion auf eine zunehmend abgeschottete Welt. Die USA machen es vor – Europa zieht nach. Begriffe wie Reshoring oder Nearshoring werden Teil unseres Alltags. „Make Europe Great Again“ ist die Denkweise, die sich etabliert hat.
In dieser „europäischen Regionalindustrie“ verlagert sich Produktion zurück in die EU oder in angrenzende Länder. Doch das bedeutet auch: Ressourcen sind knapper, Designansprüche sinken, Pragmatismus gewinnt.
Hier kommt eine andere Art Tüftler ins Spiel – denken Sie an James Dyson, der den Föhn neu erfand. In diesem Szenario geht es um clevere Lösungen mit begrenzten Mitteln. Innovation bedeutet hier nicht, die Welt im Kern zu denken, sondern buchstäblich, das Rad buchstäblich neu zu erfinden. Ganz im Sinne von: Wie baut man ein Fahrrad ohne Aluminium?
Für die Stahlindustrie heißt das:
- Die existierende Kundenbasis schrumpft, da exportstarke Branchen wie die Autoindustrie unter Druck geraten.
- Gleichzeitig entstehen neue Chancen – z. B. durch europäische Halbleiterwerke oder Infrastrukturprogramme.
- Rohstoffe werden teurer und knapper, aber: weniger Konkurrenz durch globale Anbieter.
Zusammenfassung: Risiken & Chancen
Risiken:
- Verlust traditioneller Industriekunden
- Rückgang der Nachfrage nach Massenstahl
- Rohstoffknappheit und Preissteigerungen
- Neuer Technologiewettbewerb, insbesondere im Deep-Tech-Bereich
Chancen:
- Wachstum durch Spezialisierung und Hightech-Produkte
- Wachstum durch neue Geschäftsmodelle („X-as-a-service“)
- Grüner Stahl als Premiumsegment
- Neue Nachfrage durch Rückverlagerung und Infrastruktur
- Weniger internationaler Preisdruck im protektionistischen Szenario
Wenn wir also an den Anfang zurückkehren: Der Normalitäts-Bias ist trügerisch. Nichts bleibt, wie es ist. Aber: Wer die Risiken erkennt und Chancen aktiv gestaltet, kann die Zukunft mitbestimmen.
In diesem Sinne: Bleiben Sie wach, bleiben Sie mutig – und handeln Sie vorausschauend.
Gerne biete ich diese Keynote auch für Ihr Event mit Ableitungen für Ihre Industriebranche an.